REGELWERK

Erstens.

Zwischen den Weltenbränden.

Das Theater ist nicht die „Sea-Shepherd“, keine Hilfsorganisation und schon gar kein „Besserwisser“. Das Theater ist ein Buch. Das Theater ist eine Musik. Das Theater ist eine Aufführung, über die man danach ein Glas Rotwein gießen muss. Oder Wasser. Oder Formaldehyd.

Dem Grand Guignol geht es nicht um Phänomene, Moden, Aktualität oder Gruppen, sondern um die Teufelsfratze des Menschen und der an den Auswirkungen der Einzelperson beteiligten Figuren. Im Grand Guignol geht es um psychologische Strukturen, nicht um politische Verstrickungen. Wenn sich aus der psychologischen Maske des Stückes eine Parabel über die Welt ergibt, ist dies Zufall, oder Traum, kein Statement.

Zweitens.

Das aufgeführte Stück beschäftigt sich mit der Biografie einer toten oder lebenden Person, die physische oder psychische Gewalt erfahren oder ausgeübt hat. Die Art der Gewalt muss die Normen einer scheinbar funktionierenden Gesellschaft übersteigen. Die erzählte Geschichte muss stattgefunden haben. Dramaturgische Erfindungen, die der Handlung zuträglich sind, sind erlaubt.

Drittens.

Alle vorkommenden Figuren des Stücks müssen den Figuren des Kasperle-Theaters entspringen.
Das Grand Guignol ist nicht zwangsläufig ein Puppentheater.

Viertens.

Das Grand Guignol ist gleichzeitig Komödie und Tragödie. Jux muss sein.

Fünftens.

Gewalt, Sexualität und Tod sind keine Kunstform, sondern Realität, und somit ernst zu nehmen. Sich einen Eimer Kunstblut über den Kopf zu gießen, ist lächerlich.

Sechstens.

Den Abend umspannt eine dramaturgische Klammer: Die Träume der zehnjährigen Prinzessin Vivi. Dies bedingt eine Traumdramaturgie, in der die Gesetze der Schwerkraft und Logik keine Gültigkeit besitzen.

Siebtens.

Das Theater Grand Guignol ist unmoralisch und wertfrei.

Achtens.

Die Notausgangstür im Lindenhof darf aus uns unbekannten Gründen „auf gar keinen Fall“ geöffnet werden. Möglicherweise befindet sich dahinter ein Paralleluniversum. Zuwiderhandlungen werden von Seiten der Hausverwaltung mit dem Abbruch des Projekts geahndet.

Die Klammer

In jedem unserer Stücke beleuchten wir unterschiedliche Biografien von Kindern und Jugendlichen, die physische oder psychische Gewalt erfahren oder verübt haben. Erst im Zusammenhang dieser epigenetischen Biografien erschließt sich der serielle Grundgedanke, dass universelle Konflikte im Einzelschicksal wurzeln und hereditäre Strukturen zu irreparablen Schäden in den Zukunftsmodellen unserer Kinder führen.
In jeder der vier Episoden unserer Traumreihe der Prinzessin Vivi stellen wir eine bekannte Persönlichkeit der deutschen Geschichte in den Mittelpunkt, die nicht unseren Vorstellungen der Norm entspricht; bis in der letzten Episode Prinzessin Vivi selbst Protagonistin ihrer eigenen Träume wird.

Unsere Geschichte beginnt am Abend eines beliebigen Tages. Prinzessin Vivi, zehn Jahre alt, spielt mit ihren Puppen Kasper und Püppi. Sie erzählt ihnen eine Geschichte, von der sie gehört und gelesen hat; die Lebensgeschichte eines besonderen Menschen. Bevor sie jedoch richtig begonnen hat, wird sie von ihrer Mutter ins Bett geschickt. Unter Protest schläft Vivi ein, und wir folgen ihr in einen Traum, in dem die Geschichte fortgeschrieben wird.

Die Protagonisten in Vivis Traum entsprechen den Figuren ihres direkten Umfelds, den Kasperle-Figuren. Treue Weggefährten im Kindsein, austauschbare Hüllen für die Inszenierungen der kindlichen Phantasie. Prinzessin Vivi träumt von Müttern, Vätern, Liebe, Gewalt, von Zärtlichkeit und Sexualität, von Fremdsein und Geborgensein. Wir folgen Vivi in eine Traumdramaturgie, in der sich oben und unten nicht zwangsläufig gegenüberstehen müssen, und in der die Bösen zu Guten werden können. Zudem träumt Prinzessin Vivi nicht unbedingt kindgerecht, weswegen unser Theater erst für Menschen ab sechzehn Jahren geeignet ist.

Wir verpflichten uns, Sie bestens zu unterhalten, in der Tradition des Jahrmarkttheaters, im kindlichen Vergnügen an den Grobheiten der Kasperlebühne – Theater für Erwachsene zu machen.

Wo es bei anderen Theatern heißt: „Licht an!“, heißt es bei uns:

Licht aus. Das Spiel beginnt.